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Body Mass Index zwischen Eigenverantwortung und Gesundheitspolitik - Von Wissenschaft und Leidenschaft

Endlich ist sie da - die Fett-weg-Spritze! Diese Schlagzeile ließ nach immer dringlicher werdenden Berichten zur neuen Epidemie Adipositas ein Aufatmen der Erleichterung durch den Boulevard gehen. Eigentlich ein Diabetesmedikament, erhöht die Spritze die Insulinausschüttung und stabilisiert dadurch den Blutzuckerspiegel. Gleichzeitig fühlt man sich satter und hat weniger Appetit. Adipositaspatienten verlieren damit langfristig bis zu einem Viertel ihres Körpergewichts, vergleichbar mit der Wirkung einer Magenoperation. Perfekt, Problem gelöst! Oder doch nicht? Ohne begleitende Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie nehmen die Patienten nach Absetzung der Behandlung wieder zu.

In der Europäischen Region leiden über 50 Prozent der Bevölkerung und ein Drittel der Kinder an Übergewicht oder Adipositas, so auch in Österreich. Adipositas im Kindesalter setzt sich in den meisten Fällen bis ins Erwachsenenalter fort, und führt im weiteren Lebensverlauf zu Diabetes, Krebs und anderen nichtübertragbaren Krankheiten. Ungesunde Ernährungsweisen mit einem hohen Anteil an gesättigten Fetten, Transfettsäuren, freien Zuckern oder Salz verursachen in der EU jedes Jahr über 1 Mio. Todesfälle. [i] Die Gründe für diese Epidemie sind vielfältig. Bewegungsmangel und falsche Ernährung, aber auch psychische Probleme sind einige davon. Dazu kommen gesellschaftliche Veränderungen, wie den Trend zur Klein- oder Alleinerzieherfamilie, die überbordende Motorisierung und die ständige Verfügbarkeit von Nahrung. All das führt dazu, dass wir alle zehn Jahre einen halben Kilometer pro Tag weniger gehen und rund fünf Kilo schwerer werden.

Viele Ärzte sind mit diesem Krankheitsbild überfordert und schicken Patienten einfach zur Ernährungsberatung. Das ist aber sinnlos, weil es oft Bewegungsmangel, die Psyche oder Gewohnheiten sind, die Übergewicht (mit-)verursachen. Daher kann nur ein interdisziplinärer Ansatz zum Erfolg führen. Unkomplizierte und kostenlose Hilfe beim Auffinden von entsprechenden Experten liefert der Adipositas Hilfe-Kompass[ii].

Neben unserem individuellen Lebensstil, ist aber auch das gesellschaftliche Umfeld ein wichtiger Einflussfaktor. Im Bereich der der Nahrungsmittelindustrie sind selbstregulierende Maßnahmen bei Weitem nicht ausreichend, politische Lenkung ist hier gefragt. Das betrifft sowohl die Qualität als auch die Quantität der angebotenen Nahrung. Kinderprodukte sind neben völlig überteuert oftmals besonders fett- und zuckerreich, mit Vitaminen und Mineralstoffen und, schlimmer noch, mit Zusatzstoffen und Aromen angereichert. Damit sind sie nicht nur unmittelbar schädlich, sondern prägen langfristig den Geschmackssinn und damit die Essgewohnheiten. Nicht viel anders sieht das bei Getränken aus: Etwa jedes zehnte Getränk ist speziell für Kinder designed, 40 Prozent dieser Kindergetränke sind deutlich zu süß.[iii] Sechs Prozent haben sogar rund 10 Gramm Zucker pro 100 Milliliter: Trinkt man davon einen halben Liter, hat man schon mehr als die von der WHO empfohlenen 50 Gramm Zucker pro Tag konsumiert. Auch der Ersatz von Zucker durch Süßstoffe ist keine zufriedenstellende Lösung, da Kinder sich gerade beim Trinken langfristig an möglichst wenig Süße gewöhnen sollten.

Welche Maßnahmen sollten also gesetzt werden? Ein möglicher Schritt ist es, die Werbung für diese Produkte einzuschränken. Marketingfirmen bedienen sich neben der konventionellen Werbung immer mehr der sozialen Medien und bewegen sich damit in vielen Ländern in einer rechtlichen Grauzone. Dabei ist längst wissenschaftlich belegt, dass die Bewerbung ungesunder Produkte vor allem bei Kindern das Risiko für Adipositas und nichtübertragbare Krankheiten erhöht. Im März 2023 veröffentlichte die WHO einen Katalog von Ernährungskriterien, der Kinder vor Werbung für ungesunde Lebensmitteln und Getränken schützen soll. Damit sind einerseits Entscheidungsträger, andererseits auch jeder Konsument angesprochen, Werbetechniken für unangemessene Produkte zu beschränken. Auf https://ai.ncd.digital/ hat man die Möglichkeit, anonym Screenshots oder Fotos von Online- und Offline-Werbungen hochzuladen. [iv] Ein weiteres Problem ist die Quantität und damit die Portions- bzw. Packungsgröße. Studien belegen, dass mehr gegessen wird, je mehr angeboten wird. In einem Experiment wurde jeweils der Hälfte der Teilnehmer Suppe aus normalen Tellern und Suppe aus sich selbst nachfüllenden Tellern serviert. Die zweite Gruppe aß um 73 Prozent mehr.[v]  Auch wenn man den Probanden unterschiedlich große Portionen servierte und ihnen erlaubte, sich nachzuholen, aßen jene mit der ursprünglich kleineren Portion insgesamt weniger.[vi] All das spricht gegen XXL-Packungen bzw. Portionsgrößen und für wiederverschließbare Verpackungen bzw. Getränkeflaschen.

Das Gegenmittel: Bildung und Sport!

Die aktuelle Erhebung zur Gesundheitskompetenz unter knapp 3.000 Personen ab 18 Jahren in Österreich ergab, dass sie im Durchschnitt bei der Ernährungskompetenz nur 62 von 100 Punkten erreichen. Vor allem das Beurteilen von Ernährungsinformationen hinsichtlich ihrer Vertrauenswürdigkeit und Richtigkeit, die Anwendung im Alltag und die Interpretation von Angaben auf Lebensmittelverpackungen bereitet vielen Probleme. Als besonders schwierig wird es empfunden, Gesundes auszuwählen, vor allem wenn es um Snacks oder Ausnahmesituationen geht. Auch die wesentlichen Voraussetzungen für vernünftiges Essen zu Hause, nämlich das Planen von Mahlzeiten und eine gesunde Vorratshaltung stellen eine große Herausforderung dar. Generell schnitten Männer, Personen unter 65 Jahren, Personen mit niedriger formaler Bildung und jene mit einem geringen Haushaltseinkommen schlechter ab. Besonders betroffen sind auch Personen, die allein leben oder dramatischerweise solche, die Kinder im Alter zwischen sieben und 17 Jahren haben.[vii] Hier wären Bildungsmaßnahmen empfehlenswert.

Neben einer hohen Ernährungskompetenz hilft auch wieder Bewegung. Sport verbrennt nicht nur kurzfristig Kalorien, der Muskelaufbau steigert auch langfristig den Grundumsatz. Bewegung fördert Gehirnverknüpfungen für eine bessere Impuls- und Emotionskontrolle und wirkt damit beispielsweise Spontankäufen und Frustessen entgegen. Wer sich bewegt, schüttet Endorphine aus und senkt den Cortisolspiegel: Die Stimmung wird besser und Stress, Angst und Depression werden reduziert. Und damit wäre auch die Psyche an Bord.

Mag. Barbara Fisa, MPH, studierte erst Handelswissenschaften bevor sie ihre Leidenschaft für Sport, gesunde Ernährung und Entspannung zu Public Health brachte. Sie versteht sich als Vermittlerin von Wissenschaft, ist Beraterin, Keynote-Speakerin und Autorin („Raus aus der Pflegefalle“ gemeinsam mit Prof. Dr. Bachl und Dr. Biach im Springer Verlag; link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-63396-0). Sie arbeitet an Systemen zur Förderung eines gesunden Lebensstils für Menschen nach der Pensionierung, dem „Best Agers Bonus Pass“, und berät die Stiftung motion4Kids. Nähere Informationen unter thehealthychoice.at

 


[i] iris.who.int/bitstream/handle/10665/366328/WHO-EURO-2023-6894-46660-68492-eng.pdf

[ii] www.sipcan.at/adipositas-hilfe-kompass

[iii] Institut SIPCAN

[iv] iris.who.int/bitstream/handle/10665/366328/WHO-EURO-2023-6894-46660-68492-eng.pdf

[v] Wansink B, Painter JE, North J. Bottomless bowls: why visual cues of portion size may influence

intake. Obesity Research 2005; 13(1):93-100.

[vi] Haynes A et al. Reductions to main meal portion sizes reduce daily energy intake regardless of

perceived normality of portion size: a 5 day cross-over laboratory experiment. International

Journal of Behavioral Nutrition and Physical Activity 2020; 17(21)

[vii] Griebler, R., Schütze, D., Link, T., & Schindler, K. (2023). Ernährungskompetenz in Österreich. Ergebnisbericht.

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